- Offizieller Beitrag
2006 soll die Gesundheitskarte kommen - Richtungsstreit macht Termin immer unwahrscheinlicher
Gesundheitsministerin Ulla Schmidt glaubt fest an die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte im Jahre 2006. Auch der Kostenrahmen würde nicht überschritten, ist sie überzeugt. Doch viele grundlegende Fragen sind rund 13 Monate vor dem Startschuss noch ungeklärt.
Die Aussage auf der Internetseite des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung (BMGS) ist eindeutig. "Ab 2006 sollen alle Krankenversicherten eine elektronische Gesundheitskarte erhalten", kann man dort lesen. Auch Gesundheitsministerin Ulla Schmidt hält standhaft an diesem Datum fest. "Die Karte wird wie vorgesehen am 1. Januar 2006 eingeführt", ließ sie Ende September erneut verlauten. Von einer flächendeckenden Einführung war da allerdings bereits nicht mehr die Rede. Die neue Sprachregelung heißt nun "schrittweise Einführung".
Am Starttermin will das Ministerium aber offenbar keine Zweifel aufkommen lassen. Auf Nachfrage von heute.de hieß es aus Bonn zwar: "der Zeitplan steht", genauere Informationen wollte man jedoch nicht geben und verwies auf die Website des Projektteams Bit4Health. Dort heißt es unter dem Stichwort Fahrplan lapidar: "Wenn die technischen Vorarbeiten geleistet sind, wird die elektronische Gesundheitskarte in Modellregionen getestet." Präzise Informationen stellt man sich anders vor.
"Eher 2007"
Deutlicher wird Dr. Roland Stahl, Sprecher der Bundesärztlichen Kassenvereinigung gegenüber heute.de: "Drastisch gesprochen: Anfang 2006 wird es diese Karte irgendwo in Deutschland zum Vorzeigen geben." Bis allerdings alle versicherten Bundesbürger ihre Datenkarte in der Tasche haben, "das wird eher 2007", vermutet Stahl.
"Schritt für Schritt"
Staatssekretär Klaus Theo Schröder macht laut heise.de deutlich, dass der 1.1.2006 als Stichtag zur Einführung der Gesundheitskarte nicht so eng gesehen werden soll und empfahl einen Blick in den Gesetzestext. "Im Gesetz zur Gesundheitsreform heißt es, dass die elektronische Gesundheitskarte zum 1.1.2006 die Krankenversicherungskarte ablöst. Es muss nicht bedeuten, dass zum 1.1.2006 alles auf der Karte drauf ist. Die Karte wird Schritt für Schritt weiter entwickelt", so Schröder.
Für Zweifel an der pünktlichen Einführung der elektronischen Patientenkarte sorgte in den letzten Wochen nicht zuletzt der Richtungsstreit unter den Beteiligten. Als Ende Oktober immer noch nicht Einigkeit über die grundsätzlichsten technischen Fragen herrschte, zog Ministerin Schmidt die Notbremse und drohte damit, die Planung größtenteils an sich zu ziehen. Dieser Schreckschuss zeigte offenbar Wirkung. Die so genannte Selbstverwaltung, die sich aus Spitzenverbänden von Ärzten, Zahnärzten, Krankenkassen, privaten Krankenversicherern, Apothekern und Krankenhäusern zusammensetzt, stimmte zähneknirschend einer wesentlichen Neuorganisation des Projektbüros Protego zu.
Verzicht auf Einstimmigkeitsprinzip
Statt Delegierten aus der Selbstverwaltung sollen in der künftigen Betriebsorganisation Vollzeitkräfte arbeiten. Obendrein werden Forschungsauftrage an drei Fraunhofer-Institute vergeben, die sich mit den Feinheiten der Lösungsarchitektur befassen sollen. Die wahrscheinlich wichtigste Neuerung: Das oftmals lähmende Einstimmigkeitsprinzip wird über Bord geworfen.
"Wenn alle Beteiligten gut zusammenarbeiten, sind wir optimistisch, dass der Zeitplan einzuhalten ist", übt sich Udo Barske, Sprecher des AOK-Bundesverbandes, in vorsichtiger Zuversicht. Optimismus ist vonnöten, denn selbst elementare Fragen zur elektronischen Gesundheitskarte sind bisher noch unbeantwortet:
Um Fälschungen zu erschweren soll sich auf der Karte ein Passbild des Inhabers befinden. Wie Millionen Fotos von den Versicherten zu den Kartenherstellern gelangen sollen, ist unklar. Ebenfalls Diskussionsstoff dürfte die Frage liefern, wer die Echtheit der einzelnen Lichtbilder überprüft. Fachleute schätzen, dass allein die Herstellung aller benötigten Karten rund ein Jahr dauert.
Große Debatten gibt es darüber, wo die Daten letztendlich gespeichert werden. Auf einem zentralen Serverpark? Auf der Karte? Ist eine gemischte Lösung besser? Oder verbleiben die Daten auf den Rechnern der behandelnden Ärzte und werden von dort - nach Rücksprache mit dem Patienten - bei Bedarf freigegeben? All das soll nun in einzelnen Testregionen ausprobiert werden. Ergebnis offen.
Unklar ist auch noch, ob die elektronischen Informationen nach deutschem oder europäischem Muster angelegt werden. Letzteres kennt beispielsweise neben den Geschlechtsattributen "männlich" und "weiblich" auch noch "unbekannt" (bei Opfern schwerer Unfälle) und "undefiniert" (nach Geschlechtsumwandlungen).
"Dass die Gesundheitskarte mehr kosten wird, als 1,0 oder 1,4 Milliarden Euro, ist klar."
Michael Ihringer, Intersystems
Was kostet das alles?
In der letzten Zeit wurden auch Zweifel an der Seriosität der kalkulierten Kosten laut. 1,4 Milliarden Euro sind bislang für die Einführung der Karte und der notwendigen Technik-Infrastruktur vorgesehen. Diese Zahl verteidigen das Ministerium und die Selbstverwaltung bislang vehement und in seltener Einmütigkeit. "Dass die Gesundheitskarte mehr kosten wird, als 1,0 oder 1,4 Milliarden Euro, ist klar", sagte hingegen Michael Ihringer vom Darmstädter Software-Anbieter Intersystems der "Berliner Zeitung".
Gesundheitskarte
Die Einführung der elektronischen Patientenkarte oder kurz Gesundheitskarte ist Teil des "Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung". Das Vorhaben gilt als eines der größten IT-Projekte der Welt. 80 Millionen Chipkarten sollen an die Versicherten ausgegeben werden, 350.000 Ärzte, 22.000 Apotheker, 2200 Kliniken und etwa 300 Krankenkassen müssen vernetzt werden. Neben der eindeutigen Identifikation des Patienten soll die Karte auch elektronische Rezepte transportieren können.
In der Apotheke können diese Daten bei Vorlage der Gesundheitskarte abgerufen werden - und der Versicherte bekommt sein Medikament. In einem nächsten Schritt soll die Karte auch als elektronischer Arztbrief und als Auslandskrankenschein innerhalb der Europäischen Union dienen. Zugriff auf die gespeicherten Daten haben nur Ärzte und Apotheker mit Hilfe einer zweiten Karte, der so genannten Health Professional Card. Datenschützer sind alarmiert und fürchten den "Gläsernen Patienten". Gesundheitsministerin Schmidt wurde kürzlich mit dem Negativ-Preis Big Brother Award "ausgezeichnet".
Einige Spötter fühlen sich bereits an Manfred Stolpe und die Geschichte der LKW-Maut erinnert. Auch der Verkehrsminister wiederholte bekanntlich stereotyp: "Die Maut kommt nach Plan" - bis von diesem Plan nichts mehr übrig war. Fachleute merken an, eine glaubwürdige Kalkulation könne erst auf dem Tisch liegen, wenn die Rahmendaten für das Projekt detailliert geklärt seien - und genau das sei noch nicht der Fall.
Tatsächlich verschweigt die bisherige Kalkulation die Aufwendungen der einzelnen Praxen für die anstehende Umrüstung. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung schätzt diese auf 2000 Euro je Praxis. Sollte der Arzt jedoch noch mit Computern aus der DOS-Ära arbeiten oder seine Patienten auf Papier verwalten, können daraus schnell 10.000 Euro werden. Krankenhausträger wissen ebenfalls noch nicht, welche Belastungen auf sie zukommen.
Wird die Karte zum Wahlkampfspielball?
Mit der Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips innerhalb der Betriebsorganisation dürfte Ulla Schmidt einen der größten Bremsklötze vom Hals haben. Allein: für die Einführung der Mehrheitsregelung bedarf es einer Gesetzesänderung. Und die könnte von den unionsregierten Länder im Bundesrat leicht zu Fall gebracht werden. 2006 ist Wahljahr.
von Mario Sixtus, 17.11.2004